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Khlebnikov - der Mann auf dem Zug

 „Heute gehe ich wieder
Dorthin – aufs Leben, auf die Auktion, auf den Markt,
und das Heer der Lieder führe ich.“ (Velimir Chlebnikov, Aurelia)

Es war einmal ein Mann, der saß auf einem Zug. Mit rußigem Dampf in den Augen ließ er Moskau hinter sich; es war Frühling, er wollte in den Süden. Jahre später kehrte Viktor Vladímirovič Chlebnikov zurück, krank, gezeichnet und bald schon tot. Das war im Jahr 1922. „Velimir Chlebnikov war zwei Jahre unterwegs, er machte mit unserer Armee alle Rückzüge und Vormärsche in Persien mit, bekam einen Typhus nach dem anderen. Diesen Winter kam er zurück, im Waggon für Epileptiker, überanstrengt und abgerissen, in einem Krankenkittel“ schrieb Vladimir Majakovskij nach seinem Tod. „Auf seinen Reisen machte er sich aus Manuskripten ein Kissen, auf diesem Kopfkissen schlief der Reisende Chlebnikov, und dann verlor er das Kissen.“ Von seiner letzten Reise, so Majakovskij, brachte er keine einzige Zeile mit.

Am Ende von Chlebnikovs Texten stand eine neue Poesie; eine Evolution der Sprache, der (misslungene) Versuch das Leben an einer Sternenmathematik festzumachen. Aber da war auch noch der Visionär Chlebnikov, der mit der „Zukunft des Radios“ schon das globale Dorf vorwegnahm und der in Kriegen lieber „Traumwaffen“ zum Einsatz gebracht hätte als scharfe Munition. „Chlebnikovs Ruhm als Dichter ist unermesslich viel geringer als seine Bedeutung“, schrieb Vladimir Majakovskij. „Von den hundert, die ihn gelesen haben, nannten ihn fünfzig einfach einen Graphomanen, vierzig haben ihn als Unterhaltung gelesen und sich gewundert, weshalb sie von all dem keine Unterhaltung hatten, und nur zehn (die Futuristen-Dichter, die Philosophen des „Opojaz“) kannten und liebten diesen Kolumbus neuer poetischer Kontinente, die jetzt von uns besiedelt und urbar gemacht werden.“

Das work-in-progress-Projekt unter der Leitung von Alfred Woschitz mit Beteiligung der russischen Performance-Künstlerin Josef Ka und des Filmemachers und Autors Chris Haderer folgt diesem „Kolumbus neuer poetischer Kontinente“, vermisst sie neu und stellte den Bezug zu einer Gegenwart her, die uns selbst noch zu wenig bekannt ist.

Chlebnikov, acht Jahre älter als sein Freund und Schüler Majakovskij und die größte Potenz unter den russischen Futuristen, wenn nicht den russischen Lyrikern des 20. Jahrhunderts überhaupt, gehört im europäischen Maßstab zu den Vätern und Wegbereitern der modernen Literatur, zur Generation von Franz Kafka, Richard Weiner und James Joyce in der Prosa, von August Stramm, Otto Nebel, Hans Arp, Kurt Schwitters und Raoul Hausmann in der Lyrik. Sein Werk enthält im Ansatz vieles von dem, was später die Autoren der Wiener Gruppe, der konkreten Poesie, aber auch des Surrealismus neu gefunden und weiterentwickelt haben.

Als 1972, zum fünfzigsten Todestag Peter Urban Chlebnikovs Werke in zwei Bänden herausgab, fand diese Ausgabe den einhelligen Beifall der gesamten deutschen Literaturkritik. Für Helmut Heißenbüttel präsentiert sie "für den deutschen Sprachraum eines der schwierigsten aber auch wohl der ergreifendsten Werke der Avantgarde des 20. Jahrhunderts zum ersten Mal", und für Jörg Drews bestätigte sich die Ahnung, dass das Werk eines großen Dichters in Sicht- und Reichweite gekommen ist.

Um dem mehrdeutigen Charakter und schillernden Semantik seiner Wortschöpfungen gerecht zu werden, hat der Herausgeber deutschsprachige Autoren und Autorinnen mit kommentierten Interlinearversionen dazu angeregt, mit „Chlebnikovschen Mitteln und Methoden im Deutschen deutsche Entsprechungen zu versuchen, nachdem traditionelle Methoden und Übersetzungen hier nicht mehr greifen konnten. So entstanden Übersetzungen und Nachdichtungen von Autoren wie Paul Celan, Hans Magnus Enzensberger, Ernst Jandl und Friedericke Mayröcker, Franz Mon und Oskar Pastior, Gerhard Rühm und H.C. Artmann. (Auszugsweise aus Klappentext zu „Velimir Chlebnikov Werke“ Rowohlt 1985)

Das „Chlebnikov Project“ wurde im Jahr 2017 begonnen und unternimmt den Versuch Chlebnikovs Werk als kosmopolitisches Lebenswerk in seiner Gesamtheit zu zeigen. Das letzte Segment seiner Sprachvirtuosität und seiner Neologismen bildet die von ihm selbst bezeichnete „Sternensprache“ Sie bildet den Bogen über seinen mit astronomischem Witz und Lebensironie entstandenen Weltformeln zur Geschichte des Erdballs und rechtfertigt jegliche Ohrfeige die Chlebnikov dem Öffentlichen Geschmack erteilt.

Die Dokumentation des „Chlebnikov Projects“ umfasst eine Videoproduktion, Audiovisuelle Umsetzungen der Gedankenwelten des Autors wie beispielhafte Textpassagen aus seinen breitgefächerten literarischen Kategorien seien es Prosa oder Lyriktexte, futuristische Manifeste oder Anleitungen bzw. Vorschläge an die „Vorsitzenden des Erdballs“. Das „Chlebnikov Project“ wird 2022 anlässlich seines 100ten Todestages seinen Abschluss finden und soll ein weiterer Schritt zum allgemeinen Verständnis des Werkes Chlebnikovs sein und die gültige Vision vom allzeit herrschenden Schöpferwillen des Menschen unterstreichen.